Die Frucht vom Baum der Erkenntnis

Mindestens so spannend wie paradox: Nicht jedes Gemüse ist ein Gemüse. Und nicht alles ist gesund, was wir für gesund halten. Erklärt im neuen Buch von Dr. Steven R. Gundry

Du bist, was du isst. Auf diesen Nenner lässt sich vereinfacht die Lehre des Hippokrates bringen. Ein neues Buch über “verborgene Gefahren in gesunder Nahrung” gibt diesem Satz nun eine ganz neue Bedeutung: nicht nur Junk Food im Sinne von industriell verarbeiteten Lebensmitteln bergen Gesundheitsrisiken. Auch einiges, was wir bisher als gesundes Gemüse bezeichnet haben, ist für den menschlichen Stoffwechsel und unser Immunsystem problematisch. Steven Gundry heisst der Autor, und er ist als Herzchirurg und Immunologe ausgebildet, was es Kritikern schwer macht, sein Buch The Plant Paradox (Pflanzliches Paradoxon) als Quatsch abzutun. Noch ist es nicht auf deutsch verfügbar, daher folgt hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Kapitel.

Wer nach Stimmen zu dem Buch sucht, stößt entweder auf völlige Begeisterung, oder auf totale Ablehnung. Dazwischen gibt es wenig. Ablehnung erfährt Gundry vor allem für die – verkürzte – These, dass Lektine krank machen. Lektine sind Signalmoleküle, die überall vorkommen, daher könnten sie nicht die von Gundry beschriebenen Probleme verantwortlich sein. Schliesslich sei nicht jeder Mensch krank, obwohl jeder Mensch Lektine zu sich nehme. Diese Argumentationsweise ist ähnlich jener bei Gluten: da nur wenige Menschen an Zölliakie erkranken, aber fast alle Menschen Gluten essen, sei Gluten nicht das Problem.

Also alles nur ein hysterischer Unsinn, den eine fehlgeleitete Öffentlichkeit von ideologischen Aktivisten eingetrichtert bekommt?

Die Antwort ist viel spannender!

Um beim Beispiel Gluten zu bleiben: Gundry erläutert, dass erstens Glutene auch zu den Lektinen zählen, und zweitens zu den eher harmloseren.

Mit Lektinen schützen Pflanzen ihre Frucht gegen Fraßfeinde. Im Verdauungssystem des Feindes lösen diese Zuckerbindemoleküle bestimmte Reaktionen aus, die auf Insekten oft direkt tödlich wirken, zumindest aber zu Lähmungen führen. Resultat: der Feind dezimiert sich, die Fort-Pflanzung (!) der Art wird wahrscheinlicher. Je größer der Fraßfeind, desto mehr Gift ist je nach Pflanzenart erforderlich, um die tödliche Wirkung direkt zu entfalten. Unterschiedliche Lektine besitzen unterschiedliche Eigenschaften. Anhand der Castorbohne  zeigt Gundry dass selbst für Menschen tödliche Gefahr von Lektinen ausgehen kann: ihr Lektin ist bekannt als Rizin, einem der stärksten Nervengifte.

Wir Menschen haben im Laufe der Evolution gelernt, uns auf Lektine einzustellen. Unsere Ernährung hat sie eliminiert (wir haben gelernt, dass Castorbohnen tödlich auf uns wirken) oder integriert. Die Entscheidendung fällt in unserem Darm. Ja, Gundry beschreibt, wie unsere Gesundheit auf der Symbiose basiert, die wir Menschen mit den Bakterien eingegangen sind, welche unseren Darm besiedeln. Diese Bakterien übernehmen eine Art Türsteher-Funktion. Sie leben davon, dass wir bestimmte Kost zu uns nehmen (weil sie diese „guten Bakterien“ gedeihen lässt) und andere vermeiden (weil sie Bedingungen fördert, in denen „schlechte Bakterien“ die guten verdrängen).

Bohnen und andere Hülsenfrüchte sind Lektinbomben, die lange gar nicht auf unserem Speiseplan standen. Und wenn, so haben wir gelernt über mehrstufige Zubereitungsverfahren (Einweichen, Kochen, Fermentierung) die Nebenwirkung dieser „Sättigungsbeilagen“ zu begrenzen. Essen wir sie roh oder zu kurz gekocht, wirken die Lektine mehr oder weniger schädlich. Verdauungsprobleme nach dem Verzehr von Hülsenfrüchten sind nicht ohne Grund zu geflügelten Worten geworden.

Das Problem unserer Gesundheit liegt für Dr. Gundry in den Veränderungen, die sich ergeben, wenn wir Lektine zu uns nehmen, die scheinbar harmlos sind. Beispiel Gluten. Getreide ist eine Kulturpflanze, die unsere Entwicklung vom Jäger und Sammler zu einem seßhaften Ackerbauern erst möglich gemacht hat. Zuvor haben wir Getreide nicht zu uns genommen. Seither bestimmt es unsere Kost. Ein Segen, so scheint es.

Diese rund 5000 Jahre umfassende Zeitspanne der Zivilisation, ist bezogen auf unsere Erinnerungsfähigkeit „ewig“. Bezogen auf den Stoffwechsel des Homo sapiens jedoch nicht mehr als eine Sekunde im Leben unserer Art. Die Lektine des Getreides sind daher nicht unproblematisch. Wir tolerieren sie im Großen und Ganzen, aber sie haben eine leicht toxische Wirkung auf unsere Darmflora. Je empfindlicher ein Mensch, desto unmittelbarer die symptomatische Reaktion.

Noch krasser ist jedoch die Wirkung vieler Pflanzen, die uns vor der Entdeckung des amerikanischen Kontinents vor 500 Jahren unbekannt waren. Und darunter sind einige, die wir bisher als gesundes Gemüse betrachtet haben: Allen voran die Tomate, aber auch Zucchini, Aubergine, Paprika, und die Kartoffel. Ihre Lektine, ihr natürlicher Schutz gegen Fraßfeinde, sind unseren Darmbewohnern gänzlich unbekannt gewesen.

In unserem Darm fördern diese „neuen“ Lektine (aus der „neuen Welt“) die Entstehung von Entzündungen und anderen Abwehrreaktionen unseres Immunsystems. Die „guten Bakterien“ haben nach Gundry sogar einen erheblichen Teil unseres Immunsystems übernommen insoweit ein wichtiger Teil ihrer Aktivität in der Bereitstellung von Signalmolekülen besteht, auf denen weitere Abwehrreaktionen des Körpers beruhen. „Ungenießbare“ Lektine stören diese Kommunikation empfindlich.

Als wären diese „natürlichen“ Störungen des biochemischen Stoffwechsels nicht bereits genug der Herausforderung, haben Toxine, die wir aus der Umwelt, aber auch durch Produkte der Körperpflege, Haushalt und nicht rezeptpflichtigen Arzneimitteln aufnehmen, das Problem in unserem Verdauungssystem dramatisch zugespitzt, schreibt Gundry. Er identifiziert „sieben tödliche Disruptoren “ (engl. to disrupt = unterbrechen, zerstören), die unsere gesunden Stoffwechselprozesse zerstören. Wie Trojanische Pferde nehmen wir sie auf im Glauben, dass sie uns bereichern und helfen. Es sind:

1. Breitband-Antibiotika, weil sie zu einem ungehemmten Einsatz geführt haben, die nach Gundry unseren Darm mit einem „Bombenteppich“ überzogen und durchlöchert haben.

2. Nichtsteroide Schmerzmittel wie Ibuprofen, weil sie die Schleimhäute des Dünndarms angreifen und durchlässig für Allergene und sonstige Moleküle machen, die im Blutkreislauf zu Immunreaktionen führen.

3. Magensäureblocker wie Protonenpumpenhemmer (PPIs), weil sie den pH-Wert im Dünndarm (er ist normalerweise durch Magensäure im Speisebrei absolut sauer) anheben und damit die Bedingungen für Ansiedlung von Bakterien im Dünndarm (Small Intestine Bacterial Overgrowth, SIBO) erst schaffen. Zudem hemmen PPIs nicht nur die Magensäureproduktion, sondern können auch die Protonenpumpen der Mitochondrien zerstören und damit zu einem generellen Leistungsabfall führen, wie er mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) verbunden ist. Mehr noch: da PPIs die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, ist auch ein kognitiver Leistungsabfall und ein erhöhtes Demenzrisiko zu befürchten. Schliesslich, so Gundry, begünstigen PPIs den Muskelschwund im Alter (Sarcopenie), weil durch verminderte Produktion von Magensäure der Proteinstoffwechsel gestört werden kann.

4. Süßstoffe ohne Kalorien, weil sie das Verlangen nach Zucker (Glukose) erhöhen, statt zu dämpfen. Dies liegt, so Gundry, daran, dass die Geschmacksknospen der Zunge einen Impuls an das Gehirn senden, der erst gestillt wird, wenn Glukoserezeptoren im Gehirn gesättigt werden. Da Süßstoffe keine Glukose enthalten, bleibe der „Heißhunger auf Süßes“ ungestillt erhalten.

Zudem bewirken Süßstoffe hormonelle Störungen der inneren Uhr und des Biorhythmus: Süß ist nach Gundry ein Geschmacksempfinden, welches den nahenden Winter ankündigt (nur Früchte waren süß, Früchte sind Produkte des Sommers, dem entwicklungsphysiologisch stets ein durch Nahrungsmittelknappheit gekennzeichneter Winter folgte. Ergo war der Fruchtgenuß die Aufforderung und Genehmigung zum Fettaufbau. Süßstoffe lösen permanent das Signal aus, Fett zu bilden, weil der Winter naht. Auch regulärer Zuckerkonsum über Früchte außerhalb der Saison ist demnach ein Beitrag zur Zunahme von Adipositas in der Gesellschaft.

5. Weichmacher in Plastik und andere hormonelle Disruptoren, wie Zusatzstoffe in Kosmetika, Konservierungsstoffe in der Nahrung, Sonnenschutzmitteln und Teflon, weil sie den Hormonhaushalt stören. Folgen können sein Fettleibigkeit, Unfruchtbarkeit bei Mann und Frau, Prostata- und Schilddrüsenprobleme, Beeinträchtigungen der gesunden Hirnentwicklung, diverse Formen von hormonresponsiven Arten von Krebs bei Frauen und Störungen des Immunssystems.

6. Genmanipulierte Organismen (GMOs) und Herbizide wie Glyphosat, weil sie die Darmflora zerstören, die Darmwand schädigen und damit das Eindringen von Allergenen in den Blutkreislauf unterstützen. Glyphosat schädigt demnach zudem bestimmte Leberentyme (CP450), mithilfe derer Vitamin D aktiviert und Cholesterin recycelt wird, so Gundry. Demnach ist Glyphosat ein Verursacher von Cholesterinproblemen. Gundry zitiert diesbezüglich auch die Arbeiten der MIT-Wissenschaftlerin Stephanie Seneff, die gemeinsam mit anderen Grundlagen der biochemischen Störung durch Glyphosat intensiv behandelt hat.

7. Blaues Licht von Fernseh- und Comupterbildschirmen sowie Tablets und Smartphones, weil es den Biorhythmus stört und die Produktion des Schlafhormons Melatonin hemmt. Schlafmangel ist die unmittelbare Folge, die  zu verminderter Regenerationsfähigkeit und damit zu erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten sowie zu Gewichtsproblemen führt.

Es ist faszinierend, wie Gundry in seinem Buch erklärt, wie die Kombination aus Lektinen, ungesunden Bakterien und ihren Abfallsprodukten den Organismus in den Zustand permanenter Immunabwehr versetzt, der gleichzeitig zu Insulin- und Leptin-Resistenz und metabolischem Syndrom führen kann, weil die Immunzellen Energie benötigen und entsprechende Signale an den Stoffwechsel senden. Fettleibigkeit ist damit nach Gundry nicht die Ursache, sondern die Folge von Insulin- und Leptin-Resistenz und damit die Folge von einer aus Lektinen und Umweltgiften ausgelösten Überbeanspruchung und Störung des Immunsystems.

Die Lösung, die Dr. Gundry vorschlägt, ist denkbar einfach: Verzicht auf Lektine, die unser Immunsystem stören (sein Buch enthält eine Liste von Ja/Nein Beispielen), gleichzeitige Elimination der „tödlichen Trojanischen Pferde“, um damit die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der symbiotischen, immunstärkenden Darmflora zu schaffen. Ob und welche Lektine langfristig von einem gesunden Darm toleriert werden, zeigt sich nach dem insgesamt mindestens sechswöchigen Plant-Paradox-Programm.

P.S.: Besonders wertvoll scheint das Buch für jene Leser und ihre Angehörigen zu sein, die bereits unter schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden. In einem gesonderten Kapitel mit dem bezeichnenden Titel „Keto Plant Paradox Intensiv Care Programm“ widmet sich Gundry der Schilderung tieferer Zusammenhänge verschiedener Stoffwechselprozesse, die über eine Wiederherstellung der Fähigkeit, Energie aus Fett (Ketose) anstatt aus Zucker (Glukose) zu erzeugen, günstig beeinflusst werden können. Lesen Sie selbst!

Veröffentlicht von

Uwe Alschner

Uwe Alschner, Dr. phil. M.A., Traumdoc, Big Five for Life® Coach, ist begeisterter Blogger und Coach. Die Beiträge drehen sich vorwiegend um die Themen Eigenverantwortung, Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung.

7 Gedanken zu „Die Frucht vom Baum der Erkenntnis“

  1. Lieber Uwe, ich bin schon sehr gespannt auf die Ausführungen im Buch, v.a. darüber, was Dr. Gundry nun konkret zu den lektinhältigen Pflanzen wie den beliebten Nachtschattengewächsen Tomate, Aubergine, Kartoffel und Co schreibt. Dass man diese entsprechend zubereiten oder gewisse Teile zur Lektinbeseitigung entfernen soll, ist bereits bekannt, daher umso größer die Spannung, was er dem Neues hinzuzufügen weiß 🙂 Die „trojanischen Pferde“ führen ja weit darüber hinaus und sind dabei nicht minder interessant.
    In diesem Sinne bedanke ich mich bei dir für den Buchhinweis und freue mich aufs Lesen! Herzliche Grüße aus Oberösterreich, Stefanie

    1. Ich habe mir angwöhnt alles in einer Edelstahlschale zu grillen oder im Schnellkochtopf unter Druck zu kochen, damit sind diese Stoffe schnell beseitigt – ist mir lieber als auf Früchte wie Tomaten, Auberginen, Paprika etc. verzichten zu müssen.

      1. Verzichten “müssen” ist relativ. Wer keine Probleme hat, dem stehen andere Möglichkeiten zur Verfügung als empfindlichen Menschen. Den Begriff “Kanarienvögel” von Dr. Gundry mache ich mir nicht zu eigen. Aber es leuchtet ein, dass Menschen mit Autoimmunproblemen viel unmittelbarer reagieren. Grillen reicht da oftmals eben leider nicht. Schälen und Entkernen ist Gundry’s Empfehlung.

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