Gastbeitrag von Dr. med. Bernd Hontschik
Ist es in diesen Zeiten erlaubt, den Blick zurück zu richten? Ja, es ist nicht nur erlaubt. Es ist sogar bitter nötig, denn allzu schnell wird vergessen sein, wie wir eigentlich in diesen „Krieg mit dem Virus“ geraten sind.
Im Januar 2013 erschien die Bundestagsdrucksache 17/12051. Das war eine hellseherische Risikoanalyse von Bundesinnenministerium und Robert-Koch-Institut (RKI) über die Annahme eines schwerwiegenden Seuchenereignisses durch einen neuartigen Corona-Virus. Neben Quarantäne und Hygiene wurde in der Aufzählung notwendiger Schutzmaßnahmen dem „Einsatz von Masken, Brillen und Handschuhen“ erhebliche Bedeutung zugemessen. Passiert ist danach nichts.
Vor drei Jahren provozierte Bill Gates im Februar 2017 auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Mächtigen dieser Welt damit, dass in naher Zukunft eine „hochgradig tödliche globale Pandemie auftreten“ werde, die „in der Lage ist, Millionen von Menschen zu töten, die Weltwirtschaft zum Stillstand zu bringen und die einzelnen Nationalstaaten ins Chaos zu stürzen.“ Passiert ist danach nichts.
Seit Anfang Januar konnten wir – noch von unserem Sofa aus – die verzweifelten Bemühungen in Wuhan verfolgen, eine tödliche Seuche in den Griff zu bekommen. Zehntausende Chinesen erkrankten, Tausende starben. Aber das war ja weit weg. Man beruhigte uns. Deutschland sei ja nicht China. Wir seien hier auf alles bestens vorbereitet.
Anfang Februar warnte eine schwäbische Firma das Bundesgesundheitsministerium vor Engpässen bei der Versorgung mit Masken und Schutzkleidung. Passiert ist danach nichts. Man könne ja nicht alle eingegangenen Hinweise in seinem Haus bearbeiten, sagte Jens Spahn dazu im ZDF. Sechs Millionen Atemmasken sind in Kenia verschwunden, keiner weiß wohin. Ein Flugzeug aus China voller Atemmasken landet in Frankfurt, es wird von zwei Ministern empfangen – wann hat es das schon einmal gegeben? Ein ebensolches Flugzeug landet in München, der bayerische Ministerpräsident und der Bundesverkehrsminister sind vor Ort und strahlen in die Kameras.
Krankenhäuser und Arztpraxen sind immer noch nur unzureichend mit professioneller Schutzkleidung und Atemschutzmasken ausgerüstet. Arztpraxen müssen schließen, weil die Corona-Infektion auch vor ihnen nicht Halt macht. In Alters- und Pflegeheimen ist die Versorgung noch katastrophaler. Die Atemschutzmasken, die so viel Krankheit und Tod hätten verhindern können, wurden von Anfang an ignoriert. Das hatte nur einen einzigen Grund: nicht weil sie nichts bewirken könnten, sondern weil es keine gab! Dabei ist die Frage nach der Wirksamkeit von Atemmasken ungefähr so albern wie die Frage nach der Wirksamkeit von Fallschirmen – auch hier fehlt der Doppelblindversuch.
Für die Rettung der Volkswirtschaften stellen Regierungen hunderte von Milliarden Euro bereit, es gäbe da keine Grenze nach oben. Woher kommt das ganze Geld plötzlich, und wo war es eigentlich bei der Diskussion um die lebensnotwendige Energiewende? Aber jetzt werden alle Register gezogen, es ist unendlich viel da: Die Gesundheit geht vor! Und hatten wir nicht eben noch einen eklatanten Mangel an Pflegepersonal, besonders auf Intensivstationen? Aber jetzt sollen die Kapazitäten überall mindestens verdoppelt werden. Wie soll das gehen? Wurden wir nicht gerade auf die Schließung von hunderten von Krankenhäusern in unserem Land vorbereitet? Jetzt fehlen die Betten überall, besonders auf Intensivstationen. Aber ein Intensivbett ist nicht nur einfach irgend ein Bett mit einer Beatmungsmaschine daneben und vielen elektronischen Geräten drumherum, sondern es ist nur Teil einer eingespielten Organisation von erfahrenen Ärzt*innen und Intensiv-Pflegepersonal. Das kann man nicht aus dem Boden stampfen.
Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, schrieb im März an den Gesundheitsminister: „Seit Wochen arbeiten die ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne angemessenen Schutz. Die Pflegekräfte besuchen zu pflegende ältere Menschen im Wesentlichen zu Hause und bewegen sich damit ungeschützt unter der am stärksten vom Risiko eines tödlichen Verlaufs behafteten Patientengruppe. Hausärzte, die in ihrer Praxis täglich mit unter Umständen infizierten Patienten gezwungenermaßen ohne Schutzmasken Kontakt haben, müssen gleichwohl die normale Versorgung von zahlreichen Altenheim-Patienten gewährleisten. Der Fall einer Ketteninfektion in einem Altenheim in Würzburg mit neun Toten ist ein warnendes Beispiel.“
Der Skandal ist zählbar. In seinem COVID-19-Lagebericht vom 20.4.2020 berichtet das Robert-Koch-Institut über Infektionsfälle unter dem medizinischem Personal: „Unter COVID-19-Fällen wurde bisher für 7.413 Fälle übermittelt, dass sie in medizinischen Einrichtungen gemäß § 23 Abs. 3 IfSG tätig waren. Zu den Einrichtungen zählen z.B. Krankenhäuser, ärztliche Praxen, Dialyseeinrichtungen und Rettungsdienste. Von den Fällen unter Personal in medizinischen Einrichtungen waren 72% weiblich und 28% männlich. Der Altersmedian liegt bei 42 Jahren. Bei 305 der 6.940 übermittelten Personen mit Tätigkeit in einer medizinischen Einrichtung und einer entsprechenden Angabe wurde eine Hospitalisierung berichtet (4%). Unter Personal in medizinischen Einrichtungen traten 13 Todesfälle im Zusammenhang mit einer COVID-19- Erkrankung auf. Der Anteil der Fälle unter Personal in medizinischen Einrichtungen an allen übermittelten Fällen lag in der Kalenderwoche 16 bei mindestens 6,5% und ist in den letzten Wochen angestiegen (KW 12: 3,5%, KW 13: 4,7%, KW 14: 5,4%, KW 15: 6,6%). Da Angaben zur Tätigkeit bei mehr als 40% der Fälle noch fehlen, liegt der Anteil der Fälle mit einer Tätigkeit in medizinischen Einrichtungen möglicherweise auch höher.“ In diesem „Krieg“ gegen ein Virus hat man das medizinische Personal als Kanonenfutter missbraucht.
In der FAZ sagte der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier Ende März: „Gesundheit hat 100 Prozent Vorrang“. Was für ein Satz! Ich kann mich in meinem ganzen Leben als Arzt nicht daran erinnern, dass die Gesundheit schon jemals 100 Prozent Vorrang hatte, nicht bei der Privatisierung von Krankenhäusern, nicht bei der Streichung von 50.000 Stellen in der Pflege, nicht bei der Schließung von Krankenhäusern, von Kreißsälen, von Kinderkliniken, nicht beim Nachtflugverbot, nicht beim Dieselskandal, nicht beim Tempolimit und schon gar nicht bei der größten aller Katastrophen, dem Klimawandel. Auch jetzt, im „Krieg“ mit dem Virus, kann gar keine Rede davon sein, dass die Gesundheit 100 Prozent Vorrang hat. Es wird vielmehr ein Bürgerrecht nach dem anderen ausgesetzt, es geraten immer mehr Menschen in verzweifelte Situationen, sehen sich existentiellen wirtschaftlichen Bedrohungen ausgesetzt, Ermächtigungsgesetze werden durch Parlamente gepeitscht, der Datenschutz wird außer Kraft gesetzt – der ist ja sowieso nur gut für Gesunde, sagt Jens Spahn – und inzwischen gibt es sogar Grenzen innerhalb Deutschlands. Das alles war noch nie da, und die Angst wird größer, dass wir unsere Gesellschaft nach diesem „Krieg“ nicht mehr wiedererkennen werden. Die Geschwindigkeit und die Macht, mit der Andersdenkende aus dem öffentlichen medialen Diskurs verdrängt wurden, ist beängstigend. Denn wer jetzt den „Krieg“ gegen das Virus nicht mitmacht, der macht sich schuldig. Ich kann mich an dieser Diskussion aber nicht beteiligen, solange ich keine Antwort auf die zentrale Frage weiß: Was geht hier eigentlich vor? Ausgangssperren, Schließung von Universitäten, Schulen und Kindergärten, Versammlungsverbote, geschlossene Grenzen, Außerkraftsetzung von Grundrechten, Patrouillen von Polizei und bald auch der Armee – das waren für mich bis jetzt untrügliche Zeichen einer Diktatur. Sind wir auf dem Weg in eine Gesundheitsdiktatur?
Es gibt so vieles, was jetzt völlig untergeht, nicht nur die großen Katastrophen in Syrien, im Jemen und an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Wer spricht denn noch vom Klima? Die Gesundheit geht vor! Wer spricht noch vom Brexit? Die Gesundheit geht vor! Riesige Demonstrationen gab es in Berlin, Paris, London, Barcelona – alles kein Thema mehr. Datenschutz? Lächerlich! Gerade hat die Telekom dem Robert-Koch-Institut erneut ein Paket von fünf Gigabyte ihrer Mobilfunkdaten übergeben, um die Wege der Menschen im Land verfolgen zu können. Noch anonym, versteht sich. Die Gesundheit erfordert das! Und die Bevölkerung macht das alles mit einer geradezu erschütternden Bereitwilligkeit mit: Die Gesundheit geht vor!
Irgend etwas stimmt hier nicht. Aber was? Nur eines weiß ich sicher: Diejenigen, die jetzt als unsere großen Retter auftreten, haben versagt. Sie kompensieren das jetzt mit Notstandsgesetzen und Durchregieren. Es kommt der Zeitpunkt, da das alles hinter uns liegen wird. Deswegen ist der Blick zurück jetzt schon so wichtig.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine exklusiv für das Vitalstoff.Blog überarbeitete und aktualisierte Fassung einer am 4. April erschienenen Kolumne in der Frankfurter Rundschau
Dr. med. Bernd Hontschik – Zur Person
– 1975 bis 1991 Famulant, Assistenzarzt, zuletzt Oberarzt der Chirurgischen Klinik im Städtischen Krankenhaus Frankfurt am Main-Höchst
– 1991 bis 2015 Chirurgische Praxis Konstablerwache, Frankfurt am Main
– seit 2006 Herausgeber der Taschenbuchreihe medizinHuman im Suhrkamp Verlag, Frankfurt.
– seit 2008 Mitherausgeber der Schriftenreihe der Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin im Schattauer Verlag, Stuttgart.
– seit 2009 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates und des CME-Herausgeber- und Review-Boards der Zeitschrift ‚Chirurgische Praxis‚ der Mediengruppe Oberfranken, Bamberg.
– seit 2014 Mitglied des Beirates der Akademie Menschenmedizin, Zürich.
– bis heute mehr als 200 Kolumnen in der Frankfurter Rundschau (seit 2007-2013), der Berliner Zeitung (2011-2013) und der taz (ab 2018).
– 2008-2012 Mitglied der Betriebskommission der Städtischen Kliniken Frankfurt am Main-Höchst als einer der beiden Vertreter Frankfurter Bürger.
– Psychosomatik in der Chirurgie, über die ich auch gemeinsam mit Prof. Thure von Uexküll (Freiburg) veröffentlicht habe.
– Mitgliedschaft in der Thure von Uexküll – Akademie für Integrierte Medizin, von 1998 bis 2013 als Mitglied des Vorstandes der Akademie.
– Als Mitglied dieser Organisationen möchte ich unbedingt auf MEZIS, ‚medico international‚, die Akademie für Ethik in der Medizin und auf die IPPNW hinweisen. Wer jetzt immer noch nicht weiß, welcher Organisation er seine Spendengelder anvertrauen kann, schaue sich noch die Homepage von Ärzte ohne Grenzen an.
– Last not least bin ich auch Mitglied bei Eintracht Frankfurt und im Frankfurter Ruderverein von 1865.
– langjähriger Gutachter für Berufsgenossenschaften, private Unfallversicherer, Sozialgerichte und private Auftraggeber zur Beurteilung von Unfallfolgezuständen, worüber ich gemeinsam mit dem Fachanwalt für Sozialrecht, Prof. Hermann Plagemann in Frankfurt, auch veröffentlicht habe.