»Wir sind Homo sapiens sapiens«

Zweiter Teil des Interviews von Prof. Dr. John A. Ioannidis mit John Kirby. Ioannidis spricht darin zu Themen wie der Gefahr möglicher Re-Infektion mit Covid-19, die Frage der möglichen Notwendigkeit wie auch der notwendigen Sicherheit von Impfungen gegen das SARS-Corona-2-Virus, über die Schwächen von frühen Prognosen zur Sterblichkeit der Epidemie, über den Sonderweg Schwedens sowie über Wege heraus aus dem Lockdown. John Ioannidis schliesst mit einem nachdrücklichen Appell für Transparenz und Offenheit in der Diskussion über das Virus, sowie einen Appell an alle Menschen, das Vertrauen in die Kraft der Wissenschaft zu bewahren, selbst wenn erste Annahmen korriert werden müssten.

Teil 1 des Interviews finden Sie hier.

JOHN KIRBY: Was halten Sie von der aktuellen Diskussion um mögliche Re-Infektionen? Ist es möglich, dass Menschen mit Antikörpern in Zukunft nicht immun sein könnten? Was ist Ihre Meinung dazu?

PROFESSOR IOANNIDIS: Ich halte das ist für sehr spekulativ. Es ist aber natürlich es eine Hypothese, der man nachgehen muss. Es gibt eigentlich zwei Denkansätze, die zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Die eine ist, dass Sie Antikörper haben, aber nicht in ausreichender Menge, um Sie vor zukünftigen Infektionen zu schützen. Ich glaube, das ist aktuell nicht sehr wahrscheinlich. Wenn wir darüber sprechen, Sie vor einer Infektion im nächsten Jahr oder in zwei oder drei Jahren zu schützen, sieht es natürlich anders aus, denn es ist möglich, dass dieses Coronavirus sich selbst verändert, wenn es jemals zurückkommt. Wir wissen nur nicht, wann und ob es zurückkommt. Es kann eine andere Variante sein, ganz ähnlich wie wir es bei anderen Viren sehen, ähnlich wie wir es selbst bei der Grippe sehen. Das ist der Grund, warum wir jedes Jahr versuchen, einen neuen Impfstoff zu entwickeln, um die neuen Typen abzudecken. Es ist möglich, dass die Antikörper, die wir jetzt entwickeln, diese neue Variante nicht abdecken könnten. Oder dass die Titer, die Spiegel der Antikörper, nach einer bestimmten Zeit sinken. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sehr schnell sinken würden, aber wenn wir von einem oder zwei Jahren sprechen, wer weiß? Es könnte sein, dass sie nicht mehr in ausreichend hohen Titern vorliegen.

KIRBY: Wenn man die Masern hat, die wilden Masern, bekommt man auf natürlichem Weg lebenslange Immunität. Und doch kann man sich, wenn man gegen Masern geimpft wird, nach 10 Jahren oder vielleicht sogar schneller wieder mit Masern infizieren. Spricht das dafür, dass wir versuchen sollten, auf eine andere Art und Weise als durch eine Impfung gegen SARS-CoV-2 zu immunisieren? Oder kann man das nicht sagen?

IOANNIDIS: Es ist noch ziemlich früh, um das zu sagen. Aber lassen Sie mich es von der entgegengesetzten Warte aus beschreiben:
Wir sprachen also über die Möglichkeit, dass Sie, obwohl Sie Antikörper haben, nicht geschützt sein könnten. Es ist meiner Meinung nach nicht wahrscheinlich ist, könnte aber mit der Zeit wahrscheinlich werden. Es gibt die alternative Möglichkeit, dass Sie keine nachweisbaren Antikörper haben, aber trotzdem sind Sie auf das Virus gestoßen und haben eine gewisse Immunantwort ausgelöst, die sie vom Virus befreit hat. Es geht Ihnen wieder gut.
Es gibt erste Unstersuchungen, die darauf hindeuten, dass vor allem bei jungen Menschen, bei vielen, vielleicht sogar bei einer Mehrzahl von ihnen, nicht notwendigerweise genügend hohe Antikörpertiter entwickelt wurden, aber nichtsdestotrotz das Virus überwunden wurde. Es gab eine vollständige Genesung ohne jegliches Problem. Das könnte bedeuten, dass unsere Fähigkeit, mit SARS-CoV-2 umzugehen, nicht unbedingt nur von Antikörpern abhängt.

Unser Immunsystem ist sehr komplex. Es gibt viele Mechanismen der angeborenen Immunität, und vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten, wie wir noch mit einem Virus fertig werden können und nicht länger gefährdet sind. Dies ist etwas, das wir noch eingehender untersuchen müssen. Wir müssen herausfinden, was genau den Schutz bringt. Je nachdem, wie die Antwort lautet, können die Aussichten auf einen Impfstoff mehr oder weniger erstrebenswert erscheinen.
Zum Beispiel will der klassische Impfstoff in der Regel eine Antikörperreaktion hervorrufen und sicherstellen, dass diese Reaktion von Dauer ist. Wenn es andere Mechanismen gibt, die gleich gut oder besser sind, wird dies weniger relevant, das kann jeder verstehen. Und auch wenn eine Antikörperreaktion nach der Impfung nur für eine kurze Zeit anhält, wird ein Impfstoff, der die Antikörperreaktion erzeugen soll, weniger relevant.

KIRBY: Sehr interessant, das aus Ihrem Mund zu hören. Denn es gibt zum Beispiel die Bill Gates Foundation, die dafür antritt, 7 Milliarden Dosen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 herzustellen. Und innerhalb der WHO, der CDC und der Gates Foundation gibt es offensichtlich einige Vertreter, die meinen, dass es ohne einen Impfstoff keine Rückkehr zum normalen Leben gibt. Wollen Sie nun sagen, dass diese Prognose nicht zutreffen muss?

IOANNIDIS: Ich möchte optimistisch sein, dass wir in der Lage sein sollten, in ein weitgehend normales Leben zurückkehren zu können, bevor ein Impfstoff verfügbar wird, falls überhaupt jemals ein Impfstoff verfügbar wird.
Denn, wie wir besprochen haben, gibt es all diese Hürden auf dem Weg der Herstellung eines Impfstoffs und ihn in Massenproduktion zu verbreiten.
Ich bin ein großer Fan von Impfstoffen. Während meiner gesamten Karriere habe ich stets die Linie vertreten, dass Impfstoffe zu den wichtigsten Beiträgen der Wissenschaft für die Menschheit zählen, und es gibt tolle Erfolge. Wir haben mehrere Impfstoffe, die wunderbare Erfolgsgeschichten sind.
Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir mit einem Impfstoff gegen das Coronavirus eine Erfolgsgeschichte schreiben werden. Wir haben einige Erfahrungen aus der Vergangenheit mit den Bemühungen, Impfstoffe für die anderen Coronaviren zu entwickeln, die uns bekannt waren, und keine dieser Erfahrungen war sehr erfolgreich. Eine beunruhigende Beobachtung betrifft die Tatsache, dass in einigen Fällen Impfstoffe für Tiermodelle von Coronaviren entwickelt wurden – es gibt Coronaviren, die Katzen und andere Tiere befallen – und sie haben mehr Schaden angerichtet, als eine Nicht-Impfung hätte verursachen können. Weil sie zu einer Hypersensitivität führten, einer Überempfindlichkeitsreaktion. Tier, die dem Coronavirus ausgesetzt waren, reagierten es viel stärker auf das Virus als nicht geimpfte Tiere. Bis hin zum Tod und zu anderen schwerwiegenden Folgen.

Wir haben mehrere Impfstoffe, die wunderbare Erfolgsgeschichten sind. Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir mit einem Impfstoff gegen das Coronavirus eine Erfolgsgeschichte schreiben werden.

Professor John A. Ioannidis, Stanford University

Wir müssen zunächst verstehen, was genau bei Menschen zu schweren Verläufen und zum Tod führt, und wir müssen verstehen, ob es das Virus selbst ist, oder die Immunantwort auf das Virus, die in verschiedenen Fällen mehr Schaden anrichtet.
Wenn es das Virus ist, und wenn das Problem darin besteht, dass wir keine ausreichende Immunantwort bekommen, dann brauchen wir einen Impfstoff. Wenn das Problem darin besteht, dass es die Überreaktion unseres Immunsystems ist, die schließlich versehentlich zur Zerstörung unserer eigenen Zellen, wie etwa der Lungenzellen, führt, dann könnte ein Impfstoff tatsächlich eine schlechte Idee sein.

Unterm Strich muss ein Impfstoff sehr gründlich überprüft, sehr gründlich getestet werden. Wir brauchen handfeste Beweise dafür, dass er funktioniert, handfeste Beweise dafür, dass er die Dinge besser macht, handfeste Beweise dafür, dass er Leben retten wird. Und das kann nicht von heute auf morgen geschehen.

Ich wünschte, wir könnten es sehr schnell machen, und ich bin sehr dafür, dass diese Studien durchgeführt werden. Ich weiß, dass viele brillante Wissenschaftler an dieser Aufgabe arbeiten, und ich möchte optimistisch bleiben. aber es ist unwahrscheinlich, dass wir 12 oder 18 oder 24 Monate warten können, um einen Impfstoff zu bekommen, erst recht unter so unsicheren Aussichten.

Ich glaube nicht, dass wir so lange im Lockdown-Modus bleiben können und dabei nicht nur uns selbst schaden, unsere Gemeinden zerstören, unsere Gesellschaft, dabei riesige Probleme für die Gesundheit erst erzeugen, Arbeitslosigkeit, unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft Folgen aussetzen, die viel schlimmer sind, als selbst die schlimmsten und pessimistischsten Szenarien dessen, was das Coronavirus anrichten kann.

KIRBY: Wir kommen gleich darauf zurück, aber zuvor ganz kurz: Ist Ihnen eine offizielle Studie bekannt, die gezeigt haben soll, dass Menschen, die eine Grippeimpfung erhielten, anfälliger für Nicht-Influenza-Erreger waren?

IOANNIDIS: Es gibt einige Daten, die zu diesem Thema veröffentlicht werden. Ich meine, wir müssen abwarten, bis wir weitere ausgereiftere Datensätze aus mehreren Ländern haben, um verstehen zu können, was das bedeutet. Es gab diese Beobachtungen an einigen Orten. Zum Beispiel haben wir in Italien gesehen, dass in den drei Monaten vor dem Ausbruch von COVID-19, bevor diese massiven Todesfälle verzeichnet wurden, dass diese drei Monate für die italienische Bevölkerung besonders gut waren, was die Todesfälle betrifft, insbesondere die Todesfälle durch Grippe und verwandte Krankheitserreger.
In gewisser Weise würde das jedoch bedeuten, dass es einen Überschuss an anfälligen Personen gab, die gewöhnlich in einem Winter an der Grippe sterben. Diese Menschen wären in diesem Winter nicht an Grippe gestorben, so dass dadurch mehr anfällige Personen einem Angriff durch das Coronavirus ausgesetzt gewesen sein könnten, von denen viele sehr heftig betroffen und viele dann gestorben sein konnte.
Ist das ein Hinweis darauf, dass es irgendwie eine Wechselwirkung zwischen Grippe und Coronavirus gibt, die in derselben Nische aktiv sind? Ich denke, das ist etwas, dem wir nachgehen müssen, aber ich halte es für durchaus möglich, dass diese Viren irgendwie um denselben Pool anfälliger Individuen konkurrieren, so dass, wenn man Menschen vor einem von ihnen rettet, sie trotzdem dem anderen erliegen könnten.

KIRBY: Die allgemeinen Zahlen aktuell in den Vereinigten Staaten. Wie beurteilen Sie es? Die CDC hat, wenn ich das richtig erinnere, gesagt, es gab 60.000 Grippetote. Wir liegen offensichtlich weit darunter, was die COVID-Todesfälle betrifft. Hätten wir die Todesfälle durch Corona neben der Grippe bemerkt, wenn nicht zuvor die Aufmerksamkeit erhöht worden wäre, wie Sie vorhin angedeutet haben? Wie schätzen Sie die Beziehung zwischen diesen beiden Dingen ein?

IOANNIDIS: Ich bin der Auffassung, nach dem, was wir jetzt sehen, wäre das eindeutig eine nachweisbare Welle gewesen. Es ist eine Welle, die an den meisten Orten der Welt, auch in den Vereinigten Staaten, ziemlich akut ist, so dass wir eine Häufung und Akkumulation sowohl von symptomatischen Krankheitsverläufen als auch von Todesfällen beobachten können. Sie wäre also als etwas nachweisbar gewesen, das jenseits dessen liegt, was für diesen speziellen Monat, für März und April, als typische Baseline gilt. Was die Größe dieser Welle in Bezug auf die Gesamtzahl der Todesfälle anbelangt, so ist es ein bisschen früh, um eine genaue Zahl zu nennen, aber ich denke, wir haben ganz klar alle apokalyptischen Szenarien vermieden, die schon früh in Umlauf gebracht wurden, etwa 40 und 50 Millionen Menschen, die rund um den Globus sterben, und 2,5 Millionen Menschen, die in den USA sterben. Während wir jetzt sprechen, sind über 30.000 Todesfälle zu verzeichnen, aber wie Sie wissen, gehören dazu auch diese mutmaßlichen [nicht mit Befund nachgewiesenen] Fälle, und wie wir vorhin erörtert haben, muss man irgendwann zurückkehren und sehen, wie viele davon tatsächlich durch COVID-19 verursacht wurden. Es handelt sich aber um ein ernstes Problem. Niemand würde das bestreiten. Doch es ist eindeutig nicht das apokalyptische Problem, dem wir zu Beginn befürchteten ausgesetzt zu sein.
Wir haben jetzt Daten, die zeigen, dass die Sterblichkeitsrate bei Infektionen viel, viel niedriger ist, verglichen mit unseren ursprünglichen Erwartungen und Befürchtungen. Ich denke, dass es keinen Grund zur Angst gibt. Wir haben die Belege. Wir haben eine ständige Fortschreibung der Daten. Wir haben ein Auge auf die Epidemie und ihre Entwicklung. Wir können – wir sollten Panik vermeiden, und wir können rationale Schritte unternehmen, um mit der Situation umzugehen, und dann hoffentlich sogar unsere Gesellschaft mit vorsichtigen, abgestuften Schritten wieder öffnen.

Wir haben jetzt Daten, die zeigen, dass die Sterblichkeitsrate bei Infektionen viel, viel niedriger ist, verglichen mit unseren ursprünglichen Erwartungen und Befürchtungen.

John A. Ioannidis, Epidemiologe, Stanford University

KIRBY: Okay. Ich muss fragen, was Ihrer Meinung nach der Grund war für die enorme Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Projektionen und dem, was wir jetzt sehen? Ich denke insbesondere an die Studie von Neil Ferguson am Imperial College, in der 500.000 Todesfälle im Großbritannien prognostiziert wurden. Gleich nachdem die Oxford-Studie herauskam, die dem widersprach, änderte er seine Prognose auf 20.000 oder weniger, sagte aber, dass dies auf die soziale Distanzierung zurückzuführen sei – es hatte einen Tag lang Maßnahmen soziale Distanzierung gegeben, und er sagte, deshalb könne die Schätzung reduziert werden. Was halten Sie von dieser Behauptung und was halten Sie im Allgemeinen von der enormen Abweichung zwischen der ursprünglichen Prognose und dem, was wir tatsächlich sehen?

IOANNIDIS: Das Problem mit der Studie des Imperial College und anderen ähnlichen Studien, die versuchten, die Zahl der Todesfälle frühzeitig zu prognostizieren, ist, dass sie in ihrer Modellierung sehr ungenaue Eingaben verwendet haben. Wissen Sie, die Wissenschaftler, die diese Berechnungen angestellt haben, sind sachkundige Wissenschaftler, aber selbst die besten Wissenschaftler der Welt werden astronomisch falsche Ergebnisse erhalten, wenn man ihnen Schätzungen von Perimetern gibt, die völlig daneben liegen – in diesem Fall sogar astronomisch daneben, verglichen mit der Realität. Ich glaube, dass hier genau das passiert ist. Und ich sage das nicht, um jemandem die Schuld zu geben – es ist erstaunlich, dass sie ihre Arbeit so schnell zusammenstellen konnten. Aber der Input, der zu ihren Berechnungen führte, war völlig falsch, wenn wir die heutigen Erkenntnisse zugrunde legen. In ihren nachfolgenden Bemühungen versuchten sie, einige dieser Schätzungen auf aussagekräftigere Zahlen zu reduzieren. Und dann ergibt sich die Frage, ob diese massiven Verringerungen gegenüber den ursprünglichen Schätzungen auf Maßnahmen oder auf die Korrektur einiger dieser falschen Schätzungen zurückzuführen sind, die zu Beginn als Input verwendet wurden.
Es ist klar, dass falsche Grundannahmen eine sehr große Komponente darstellen, denn sie mussten sich ändern. Zum Beispiel: die den Berechnungen zugrunde liegende Infektionssterblichkeit, wodurch sich die Zahl der geschätzten Todesfälle sofort dramatisch verringert.
Wie gross der Beitrag der sozialen Distanzierung ist? Ich glaube, das bleibt eine offene Frage, und bevor wir sie beantworten, müssen wir uns ein vollständiges Bild davon machen, was in den verschiedenen Ländern geschehen. Erst danach können wir ermessen, was genau die soziale Distanzierung für uns bewirkt hat. Und noch mehr, was die verschiedenen Aspekte der sozialen Distanzierung bewirkt haben. Im Korb der sozialen Distanzierung gibt es eine sehr große Anzahl verschiedener Maßnahmen. Wie zum Beispiel die Schließung von Schulen, die Schließung von Geschäften, die Vermeidung von Massenversammlungen, die Vermeidung von Reisen, die Vermeidung von Zusammenkünften. Und bei letzterem: wie hoch ist die Schwelle des Versammlungsverbots? Setzen Sie sie so, dass nicht mehr als 2 Personen zusammenkommen dürfen? Mehr als 3 Personen? Mehr als 50 Personen? Oder was? Ich bin überzeugt, jede dieser Maßnahmen könnte an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Ausprägungen haben und unterschiedlich wirksam sein.

Ich denke, allein die Aussage, dass die Maßnahmen funktioniert haben, ist eine sehr, sehr schwache Aussage. Sie simplifiziert viel zu sehr. Ich denke, dass wir sehr sorgfältig prüfen müssen, welche dieser Maßnahmen funktioniert haben, welche nicht funktioniert haben und welche vielleicht sogar Schaden angerichtet haben.
Im Prinzip denke ich, dass wir niemandem die Schuld dafür geben sollten, entschlossen und konsequent gehandelt zu haben. Zu sagen: „Bleiben Sie zuhause, wir sind nicht sicher, was genau passiert“ war am Anfang ein vernünftiger Ansatz.
Aber jetzt können wir ein bisschen gründlicher, ein bisschen genauer sein. Zum Beispiel Schulschließungen: Die uns vorliegenden Beweise deuten darauf hin, dass die Zahl der Todesfälle durch Schulschließungen relativ gesehen um etwa ein Fünfzigstel, also um etwa 2%, zurückgegangen ist, was eine sehr geringe Zahl ist. Auch hier handelt es sich wieder um vorläufige Erkenntnisse, die überprüft und eingehender untersucht werden müssen, aber wenn der Nutzen von Schulschließungen, insbesondere von Kindergarten- und Grundschulschließungen und sogar von Schließungen der Mittelschule, wirklich so gering ist, und die Folgen, die nachteiligen Folgen von Schulschließungen weitaus größer sind, die sich letztlich auch Sterbe-Äquivalenten ausdrücken lassen – wenn man Gesellschaft und Wirtschaft zerstört -, dann wird man das wahrscheinlich mit Todesfällen in der Bevölkerung bezahlen.

KIRBY: Und gibt es bei der Schließung der Schulen nicht auch eine Komponente, die in Bezug auf das Virus, kontraproduktiv gewesen sein könnte? Ist nicht das Konzept der Herdenimmunität, dass sich ein über die Luft übertragbares Atemwegsvirus unter denjenigen verbreitet, die wirklich kein Problem damit haben, so dass Sie also diese Gruppenimmunität aufgebaut haben. Dass man die Schwachen beschützt, während der Rest von uns mit dem Virus fertig wird und es dann keine Wirte mehr hat, durch die es hindurchgehen kann. Würde das nicht die Zeit drastisch verkürzen, die ältere Menschen isoliert werden müssen?

IOANNIDIS: Das ist eindeutig eine Möglichkeit. Und wir müssen das Gesamtbild sehen, bevor wir ein Urteil darüber fällen können. Aber in der Tat ist es möglich, dass kleine Kinder und Kinder im Allgemeinen, weil sie keine wirklich schweren Krankheiten bekommen – die meisten von ihnen sind völlig asymptomatisch oder leicht symptomatisch -, sie zu einem Pool von Herdenimmunität beitragen könnten, ohne selbst in Schwierigkeiten zu geraten. Und wenn Sie ältere und gebrechliche Menschen davor schützen könnten, mit Kindern in Kontakt zu kommen, wären Sie vielleicht besser gefahren, als Schulen zu schliessen und die Kinder zu bitten, auf engem Raum bei ihren Grosseltern und gebrechlichen Verwandten zu leben und sie dann anzustecken.

Es ist auch eine Frage des Timings. Zum Beispiel können verschiedene Sperrmaßnahmen unterschiedliche Vorteile und unterschiedliche Schäden haben, je nachdem, in welchem Stadium der Infektiosität oder der Epidemiewelle sie angewendet werden. Ich glaube, sie können die Zahl der Infektionen unterschiedlich begrenzen oder sogar die Zahl der Infektionen erhöhen, je nachdem, ob sie in einem frühen oder einem späten Stadium angewendet werden.
Wenn man in einer Situation, in der das Virus bereits weit verbreitet ist, einen Lockdown ergreift in der Gemeinde, und 30% der Menschen sind aktiv infiziert, und Sie sagen ihnen: „Geht einfach und bleibt zu Hause, bei euren Verwandten, bei euren Großeltern, bei euren Verwandten, die schwere Krankheiten haben“, dann zwingen Sie diese Menschen dazu, Tag und Nacht mit diesen gefährdeten Personen in engen Räumen zu bleiben. Nun, das scheint keine sehr gute Idee zu sein.

Sie variiert auch von einem Ort zum anderen. Die Fähigkeit, zuhause in Isolation zu gehen, ist für mich etwas ganz anderes: Ich habe ein schönes Haus und ich habe den Raum, den ich brauche. Ich kann weit weg von meiner Tochter sein, wenn ich das möchte. Aber an den meisten Orten auf der Welt können die meisten Menschen sich zuhause nicht wirklich effektiv isolieren. Viele von ihnen müssen arbeiten gehen, weil sie systemrelevante Arbeiten verrichten, auf die wir alle angewiesen sind. Viele andere haben überhaupt kein zuhause, wohin sie gehen können. Wir haben eine sehr große Zahl von Obdachlosen. Sie könnten in eine Unterkunft gehen, und wir haben vor kurzem Daten gesehen, die darauf hindeuten, dass dies der schlechteste Ort ist um Schutz zu suchen, da 35 % der Obdachlosen in einer Unterkunft in Boston positiv auf das Coronavirus getestet wurden. In gewisser Weise haben wir sie also gezwungen, sich anzustecken, was absolut schrecklich ist. Wir machen die Dinge für sie noch schlimmer. Anstatt zu versuchen, Menschen zu helfen, die benachteiligt sind, benachteiligen wir sie noch mehr und machen sie noch ungleicher. Vielen der Maßnahmen, die wir ergreifen, und die einige von uns schützen, denen es besser geht, lassen aber große Teile der Bevölkerung, sowohl in diesem Land als auch noch mehr in anderen Ländern – denken wir an die Dritte Welt – völlig schutzlos zurück.

KIRBY: Nun, aber im Fall dieses Obdachlosenheims, waren nicht die meisten oder alle von ihnen, am Ende tatsächlich asymptomatisch?

IOANNIDIS: Bislang hatte keiner von ihnen Symptome. Natürlich müssen wir das weiter beobachten. Aber wie Sie wissen, ist die Wahrscheinlichkeit, Symptome zu entwickeln, bei älteren Menschen und bei Menschen mit schweren Grunderkrankungen viel höher. Also sind junge Obdachlose vielleicht infiziert, und sie merken das einfach nicht, und es geht ihnen gut. Aber es gibt viele Menschen da draußen, die obdachlos sind, die benachteiligt sind, die wirklich eine schwere Zeit durchmachen. Und wir sie mit dem, was wir tun, anstecken, wäre das eine Katastrophe. Ich mache mir auch wirklich Sorgen, dass wir mit vielen der Maßnahmen, die wir ergreifen, Armeen von Arbeitslosen ohne Krankenversicherung schaffen könnten. Wir könnten mehr Obdachlose schaffen. Vielleicht schaffen wir Bedigungen, die Menschen benachteiligen, so dass sie im Falle einer Pandemie zu leichten Opfern, während wir in unseren schönen Häusern sitzen.

KIRBY: Herr Ioannidis, ich weiß, Sie sind sehr diplomatisch und sehr freundlich zu Ihren Kolleginnen und Kollegen, aber man hat mich gebeten, Sie zu fragen: Wie konnten sehr kluge Leute bei der WHO, dem Imperial College usw. einen solch krassen Fehler machen? Es scheint einfach… ein Fehler in dieser Größenordnung… Besteht die Möglichkeit, dass es sich um mehr als einen dummen Fehler handelt? Ich meine, konnte man sich einfach so dramatisch, zutiefst, zutiefst täuschen? Mit solch schrecklichen Konsequenzen?

IOANNIDIS: Leider ja. Und ich denke, dass wir das nicht so sehen sollten, dass die Wissenschaft versagt, oder dass auch nur diese einzelnen Wissenschaftler versagt haben. Diese Wissenschaftler, die diese Modelle geschaffen haben, arbeiten unter extrem belastenden Bedingungen mit extrem limitierten Daten, und wenn man unter belastenden Bedingungen und mit sehr begrenzten Beweisen arbeitet, muss man vom Schlimmsten ausgehen und versuchen, die Menschen vor dem Schlimmsten zu schützen. Ich denke also, dass man genau das getan hat. Ich denke nicht, dass wir sagen sollten, dass sie schlechte Wissenschaftler waren. Sie haben in astronomischem Ausmaß daneben gelegen. Ich denke, das ist in der Tat der Fall. Aber die Wissenschaft hat es letztlich gerichtet, und sie hat es ziemlich schnell gerichtet, würde ich sagen, unter den gegebenen Umständen und in einer solchen Situation von Panik und Chaos.

Die Modelle zur Schätzung der Gefahr haben in astronomischem Ausmaß daneben gelegen.

John A. Ioannidis, Stanford University

Ich denke also, dass wir uns auf die Kraft der Wissenschaft besinnen sollten, dass sie sich selbst korrigiert, dass sie die Dinge schließlich und hoffentlich ziemlich rasch richtig macht und dass sie wirklich das Beste ist, was der Menschheit passiert ist. Ich denke, dass die Wissenschaft das Beste ist, was wir als Menschheit haben, um uns zu leiten. Alles was wir brauchen ist nur eine bessere und genauere Wissenschaft.

KIRBY: Ich will das gerne glauben, Herr Doktor. Aber die Sache ist die: Sie sind eine korrigierende Kraft, und viele andere Epidemiologen und Ärzte. Aber bis heute macht die Trump Administration – und ich werde keinen Unterschied machen zwischen der Trump Administration und Dr. Fauci, und Dr. Birx – sie behaupten, wie Neil Ferguson, dass wir ohne die Maßnahmen des Social Distancing in der Tat 2 Millionen Tote in den USA gesehen hätten. Deutet Ihre Arbeit darauf hin, dass das Fall-Todesfall-Verhältnis mit oder ohne soziale Distanzierung anderes nahelegt? Ist das das Ergebnis Ihrer Serologie-Studie in Kalifornien?

IOANNIDIS: Sowohl unsere Serologiestudie in Kalifornien als auch verschiedene andere Studien haben damit begonnen, Daten über Infektionsraten zu veröffentlichen, welche an verschiedenen Orten der Welt ebenfalls sehr hoch sind. Das deutet darauf hin, dass die Infektionssterblichkeitsrate sehr, sehr niedrig ist. Diese Szenarien von 40 Millionen Todesfällen in der Welt und mehr als 2 Millionen Todesfällen in den USA ohne jegliche Maßnahmen sind also Stand heute Science-Fiction. Ich kann das mit keinen anderen Worten beschreiben.

Das bedeutet nicht, dass die soziale Distanzierung keinen Nutzen gehabt hätte. Ich denke, wir müssen sehr vorsichtig sein, und wir müssen jede einzelne Komponente der sozialen Distanzierung überprüfen, um zu sehen, welche dieser Komponenten funktioniert und vielleicht auch, welche dieser Komponenten tatsächlich irgendeinen Schaden verursacht hat. Wir müssen einfach ruhig bleiben.

Es ist nicht die Zeit für gegenseitige Schuldzuweisungen. Es ist nicht an der Zeit zu sagen: „Ich hatte Recht, Sie hatten Unrecht.“ Ich bin sicher, dass ich Tag und Nacht Fehler mache. Ich bin Wissenschaftler. Ich mache Fehler, und ich versuche nur, sie zu korrigieren. Ich versuche nur, bessere Daten zu erhalten. Und wenn ich das nächste Mal, wenn wir sprechen, bessere Daten habe, und das deutet darauf hin, dass ich mich in einer meiner Aussagen geirrt habe, dann gebe ich das gerne zu. Um offen zu sein, müssen wir einfach transparent sein. Wir müssen der Wissenschaft vertrauen, und wir müssen voranschreiten und unsere Welt vorsichtig, behutsam, aber datenbasiert wieder öffnen.

KIRBY: Nun, „vorsichtig und behutsam“. Bedeutet das notwendigerweise, Kontakt-Rückverfolgung? Ist die Ermittlung von Kontaktpersonen in einer Stadt wie New York eine wissenschaftlich machbare Idee? Wo ich, wenn ich über den Times Square oder die Grand Central Station reise, täglich mit Hunderttausenden von Menschen in Kontakt bin, und noch mehr, wenn dieses Virus tatsächlich drei Tage lang auf Oberflächen lebt. Also, das ist es doch, was uns unaufhörlich eingehämmert wird. Dass das notwendig sei. Ist es überhaupt ein wissenschaftlich angemessener Begriff für eine Atemwegsinfektion?

IOANNIDIS: Die Ermittlung von Kontaktpersonen ist in einer Situation sinnvoll, in der Sie eine sehr begrenzte Verbreitung des Virus haben, und in der nur sehr wenige Menschen infiziert wurden. Sie wissen, was der Indexfall ist, und Sie können 10, 20, 30, 40 Personen verfolgen, die dem Virus ausgesetzt waren, und dann diejenigen identifizieren, die infiziert sind, alle unter Quarantäne stellen und versuchen, die Epidemie auszulöschen.
In gewisser Weise hat es in Ländern wie Taiwan, Singapur und Südkorea recht gut funktioniert, wo man sehr aggressiv war, wenn es darum ging, die Infizierten zu testen und zu identifizieren und dann zu versuchen, auch ihre Kontaktpersonen zu identifizieren. Aber es ist nichts, das man in den allermeisten Orten leicht anwenden kann. Und ist es in einem Land wie den USA noch weniger einfach durchführbar. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es kein Patentrezept gibt.
Ich bin immer für mehr Tests gewesen. Weil wir daraus bessere Erkenntnisse gewinnen, besseren Einblick in die Epidemie. Ich habe mich auch für repräsentative Stichprobentests ausgesprochen, weil sie uns mit größerer Genauigkeit sagen, in welchem Stadium sich die aktuelle Infektionswelle befindet, wie viele Menschen infiziert waren und wie viele Menschen aktiv infiziert sind. Aber für Orte, an denen 10 %, vielleicht 20 % der Bevölkerung bereits infiziert sind, kann man sich vorstellen, dass fast jeder an diesem Ort dem Virus ausgesetzt war.
In New York City sind wir zum Beispiel im Moment dabei, eine Seroprävalenz-Studie durchzuführen, hoffentlich sehr bald. Angenommen, es würde eine Infektionsrate von 30 % erreicht (30 % der New Yorker sind infiziert), ist es sehr wahrscheinlich, dass fast jeder zweite New Yorker ebenfalls Kontakt hatte.

KIRBY: Es tut mir leid, könnten Sie das noch einmal sagen? Wenn 30% der New Yorker sind infiziert wurden.

IOANNIDIS: Das ist rein spekulativ, wie Sie verstehen, aber wenn 30% der New Yorker infiziert sind, dann müssen die anderen 70% fast allen begegnet sein, einigen dieser 30% Infizierten sogar erst kurz zuvor.
Die Ermittlung von Kontaktpersonen bedeutet in diesem Fall also: die gesamte Bevölkerung. Und selbst bei niedrigeren Prozentsätzen – die genannten 30 Prozent waren rein spekulativ, und bitte sagen Sie nicht, dass ich hellsichtig irgendwas behaupten würde, aber selbst wenn 5 % der Bevölkerung infiziert sind, also 1 aus 20 Menschen, trifft jeder von uns in seinem täglichen Leben auf viele andere. Sogar unter den Bedingungen der Ausgangsbeschränkungen. Damit meine ich: viele Menschen müssen arbeiten. Viele Menschen gehen einkaufen. Es wird sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, wirklich alle aufzuspüren, die diesen 5 % ausgesetzt waren.

KIRBY: Bitte beschreiben Sie die von Schweden gewählte Strategie und was sie uns heute sagt?

IOANNIDIS: Schweden war eines der Länder, die sich für einen weniger restriktive Ansatz entschieden haben. Sie hielt einen Großteil ihrer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft offen. Sie ermöglichten die Öffnung der meisten Schulen, des Kindergartens, der Grundschule und der Mittelschule. Sie hielt die meisten Geschäfte, Bars und Restaurants offen, wenn auch mit kleineren Einschränkungen. Sie erlaubten es den Menschen auch, sich zu treffen, jedoch nicht mehr als 50 Personen. In gewisser Weise unterscheidet es sich also sehr von den drakonischen Maßnahmen, die in anderen Ländern in Europa und an vielen Orten in den USA mit sehr scharfen Abriegelungsmaßnahmen umgesetzt wurden.
Sie haben sich recht gut bewährt. Natürlich ist es sehr schwierig, ein Land mit einem anderen zu vergleichen, denn man erwartet große Unterschiede bei den Infektionsraten und auch bei den Todesraten.

Ein Land wie Norwegen etwa, in dem der Durchschnittsnorweger wahrscheinlich nur sehr wenige andere Menschen sieht, weil das Land im Vergleich zu Stockholm sehr dünn besiedelt ist. Man kann das eins zu eins vergleichen kann. Vielleicht können Sie Schweden zum Beispiel mit der Schweiz vergleichen, die schon sehr früh sehr drakonische Maßnahmen hatte.
Und die Todesrate pro Million Einwohner ist etwas höher, etwas höher in
Schweiz, im Vergleich zu Schweden. Bis jetzt. Das sind sehr, sehr knifflige Vergleiche. Es handelt sich um Vergleiche, die mit grosser Vorsicht vorgenommen werden müssen, weil es sich um Beobachtungen handelt. Sie können keine Kontrollgruppe betrachten. In der Schweiz lässt sich kein Schweden anlegen. Und man keine Schweiz in Schweden schaffen. Das heisst, auch wenn wir Behauptungen sehen werden, dass „dies der absolute Beweis dafür ist, dass die Abriegelung funktioniert hat“, oder gar umgekehrt, dass „das alles überhaupt nicht nötig war“: ich denke, wir müssen sehr vorsichtig sein.

Bisher gibt es jedoch keine Beweise, die darauf hindeuten, dass Schweden etwas falsch gemacht hat, ich denke, dass es ihnen ganz gut ergangen zu sein scheint. Sie hatten eine Reihe von Todesfällen. Die Zahl der verlorenen Personenjahre war ziemlich gering, weil fast alle dieser Todesfälle bei Menschen auftraten, die sehr gebrechlich und alt waren und eine sehr begrenzte Lebenserwartung hatten. Sie waren nie annähernd in Gefahr, dass ihr Gesundheitssystem zusammenbrechen könnte. Sie hatten immer genügend Reserven. Zumindest bis jetzt. Das könnte sich in Zukunft ändern, und ich beobachte das sehr aufmerksam. Aber ich glaube nicht, dass wir den Schweden vorwerfen können, dass sie getan haben, was sie getan haben. Vielleicht sollten wir ihnen gratulieren.

»Vielleicht sollten wir Schweden gratulieren!«

John A. Ioannidis, Stanford University

KIRBY: Und was halten Sie vom Vorschlag [eines deutschen Ministers], dass man Kindergärten sofort öffnen sollte?

IOANNIDIS: Ich denke, dass dies ein interessanter Vorschlag ist. Sowohl Deutschland als auch andere Länder in Europa, wie Dänemark, Österreich und sogar Italien, unternehmen derzeit, während wir hier sprechen, Schritte, um verschiedene Segmente ihrer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft zu öffnen. Ich denke, wir müssen sehen, was passiert. Und ich bin für solche Schritte, wenn Sie eine Situation haben, in der Sie den Höhepunkt der Infektionen erreicht haben und anfangen, rückläufig zu sein. Wenn Sie die Epidemie im Auge haben, wenn Sie wissen, dass sie nicht außer Kontrolle geraten ist, wenn Sie wissen, dass Ihr Gesundheitssystem immer noch eine Menge Kapazität hat, dass Sie, egal was passiert, immer noch viele Reserven an Betten und Intensivbetten haben. Und all diese Länder, Deutschland, Dänemark, Österreich, haben im Moment noch viele Reserven. Sogar Italien unternimmt Schritte zur Eröffnung von Geschäften und einigen Unternehmen, und in diesen Gebieten, in denen dies geschieht, haben sie die Fähigkeit, zu verfolgen, was passiert und was die Entwicklung der Epidemie sein könnte, während sie das tun.
Ich möchte optimistisch bleiben, und ich denke, dass mehr Länder diese Schritte unternehmen sollten, wenn sie diese Voraussetzungen erfüllt haben, und sehen, was passiert. Ich glaube nicht, dass es Menschenleben kostet. Wir müssen das tun und sehen, was passiert, denn sonst werden wir wegen der Abriegelungsmaßnahmen massiv Menschen töten.

KIRBY: Also, wo wir gerade von den Abriegelungsmaßnahmen sprechen.
Ich nennen Ihnen drei Aspekte, und Sie können sich dazu so gut wie möglich äußern, und besonders im Hinblick auf Schweden bin ich sehr neugierig: War die soziale Distanzierung hilfreich, um die Kurve abzuflachen? War die Abflachung der Kurve hilfreich, um die Belastung der Krankenhäuser zu reduzieren? Und führt die Abflachung der Kurve letztlich zu weniger Todesfällen oder dazu, dass diese nur verteilt werden? Müssen wir unweigerlich dem Verlauf der epidemiologischen Kurve, folgen, egal was passiert, und tun wie also nichts anderes, sie nach in die Zukunft zu verschieben? Das scheint die Meinung zu sein. Und dann, da alles noch nie da war, muss man wohl wirklich über den Wert der sozialen Distanzierung sprechen, so gut man das jetzt feststellen kann, aber hat das Konzept der Abflachung der Kurve zunächst einmal tatsächlich geholfen?

IOANNIDIS: Also, wenn man sich anschaut, was die Befürworter der Theorie der Verflachung der Kurve vorgeschlagen haben, was eine sehr interessante Theorie ist und vielleicht auch richtig sein mag: Die Begründung war nicht, um Leben zu retten, sondern um die Epidemiewelle hinauszuzögern, in gewissem Sinne, um die Kurve abzuflachen und Zeit zu gewinnen, um besser vorbereitet zu sein. Zum Beispiel mehr Betten zu schaffen, mehr Beatmungsgeräte anzuschaffen, das Krankenhaus auf diese große Schlacht vorzubereiten, die Testkapazitäten vorzubereiten, ausreichend Schutzausrüstung zu beschaffen – Sie gewinnen Zeit. Aber irgendwann, früher oder später, wenn Sie sich entscheiden, die Ausgangsbeschränkungen aufzuheben. Dann sind Sie wieder bei einem Virus, das sich ausbreiten muss, und es wird sich ausbreiten, und es wird die Menschen infizieren, die es nicht sofort infiziert hat, aber es wird sie später infizieren. Einzig und allein: Sie sind einfach besser vorbereitet und mit besseren Kapazitäten ausgestattet, um damit umzugehen.
Wenn das Gesundheitssystem zusammenbricht, gibt es ein Übermaß an Todesfällen. Ich denke, das haben wir gesehen, denn in diesem Fall kann man den Menschen nicht wirklich Pflege anbieten, und einige Menschen, die vielleicht gerettet worden wären, wenn ihnen ein Beatmungsgerät zur Verfügung gestanden hätte, sterben, weil dies keine Option war.
Allerdings hat der Ansatzes, die Menschen zuhause bleiben zu lassen, in vielen Bereichen jedoch Kollateralschäden an der Gesundheit verursacht. Viele Menschen, die an anderen schweren Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall leiden oder an Dingen, für die sie dringend ins Krankenhaus müssen, sind nicht oder konnten nicht gehen, weil sie in Panik waren, weil sie Angst haben, weil sie all die Nachrichtenberichte darüber sehen, wie schrecklich diese Sache ist, und sie wollen einfach nicht in die Nähe des Krankenhauses gehen. Wir wissen, dass für diese alltäglichen Dinge, die die große Mehrheit der Todesfälle verursacht haben, moderne Medizin Leben retten kann.
Und wenn diese Menschen zu Hause bleiben, weil wir es mit der Ausgangsbeschränkung übertreiben, und wenn wir es überinterpretieren, töten wir möglicherweise mehr Menschen als alle, die durch Maßnahmen gegen das Coronavirus gerettet werden könnten. Wir müssen also sehr vorsichtig sein.
Ich denke, es ist sehr bedauerlich, dass wir schon früh so astronomisch falsche Zahlen hatten. Es war unvermeidlich, dass wir aufgrund dieser Zahlen Alarm schlagen mussten. Leider gerieten die Menschen in Panik. Sie hatten Angst. Leider sind unsere Krankenhäuser jetzt, was die Nicht-COVID-19-Stationen betrifft, die meisten von ihnen, viele von ihnen, im Vergleich zur typischen Nutzung leer oder völlig unterausgelastet. Und ich denke, dass dies ein großes Problem sein könnte.

KIRBY: Nun zu Ihrer Studie, und das ist die Schlagzeile für mich, Ihre Studie – auch wenn sie wiederholt werden muss, wenn sie muss von Fachkollegen überprüft werden muss, und auch wenn es noch Zeit braucht – aber Ihre Studie hat im Wesentlichen gezeigt, dass die Todesfallrate ähnlich ist wie bei der saisonalen Grippe. Sollte die wichtigste Empfehlung jetzt nicht lauten, so bald wie möglich zu öffnen? Vielleicht sollten man den Schwachen weiterhin Schutz bieten, aber sollten wir nicht von den Dächern rufen, dass es an der Zeit ist, sich zu öffnen?

IOANNIDIS: Ich denke, dass es an vielen Orten an der Zeit ist, sich zu öffnen, und die Zeit für andere wird kommen. Ich denke, sie wird kommen, wenn wir sorgfältig Informationen darüber sammeln, wie sich die Epidemie entwickelt, sorgfältig vorgehen, um sicherzustellen und allen Menschen in unserer Gemeinschaft Vertrauen und Selbstvertrauen zu geben, dass wir die Kontrolle über die Epidemie nicht verloren haben. Denn viele Menschen werden immer noch sehr ängstlich sein, werden sie sagen: „Ich will nicht rausgehen. Ich will nichts tun. Es sterben immer noch Menschen!“ Wenn wir das tun, wenn wir Wissenschaft betreiben, wenn wir verlässliche Daten liefern, wenn wir die Gewissheit bieten, dass dieses Ding sie nicht töten wird, dass es kein höheres Risiko hat, sie zu töten als die saisonale Grippe, pro infizierter Person – auch wenn wir wissen, dass es einige Menschen gibt, die ein viel höheres Risiko haben, und diese müssen wir natürlich sehr, sehr, sehr sorgfältig schützen – ich denke, wenn wir diese Agenda aufstellen, könnten wir uns öffnen.
Und ich denke, es muss schrittweise geschehen, es muss das Vertrauen der Bevölkerung stärken, dass das Richtige getan wird, und es ist zum Wohle unserer Gesellschaft und unserer Bürger und aller Menschen. Und dann, so denke ich, werden wir gut vorankommen. Wir werden es sehr genau beobachten müssen, aber wenn wir das nicht tun, sehe ich keine wirkliche Alternative.

KIRBY: In Ihrem letzten Interview sagten Sie, dass Sie nur ein einfacher Wissenschaftler sind, was sympathisch ist, und dass sie nicht politisch argumentieren. Ich möchte Sie nur dazu bringen, dies in geeigneter Weise zu wiederholen. Denn wir sehen, dass der Kampf um die Öffnung oder das Beibehalten der Maßnahmen entlang parteiischer Linien zu verlaufen scheint, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auf der ganzen Welt. Als sei es, wissen Sie, ein Kampf entweder zwischen links und rechts, oder zwischen der Bürokratie bei der CDC und dem Präsidenten oder was auch immer. Stehen Sie über dieser Auseinandersetzung? Sind Sie ein Trump-Anhänger oder ein Anti-Trump-Anhänger? Sind – sind Sie in irgendeiner Weise politisch motiviert? Bevorzugen Sie die Weltwirtschaft gegenüber dem Leben der Menschen? Irgendwas in der Art?

IOANNIDIS: Ich muss wiederholen, dass ich nur ein einfacher Wissenschaftler bin, der nur versucht, die eigenen Fehler zu korrigieren. Ich versuche nur, meine Fehler zu korrigieren und es richtig zu machen und Leben zu retten. Ich habe absolut keine politische Agenda hinter meinem Denken und meinen Berechnungen. Berechnungen und Wissenschaft sind immer gleich, unabhängig davon, welcher politischen Partei man angehört. Sie sollten gleich sein. Und ich denke, es ist eine große Schande, dies wirklich in eine politische Schlacht zu verwandeln. Es stehen Leben auf dem Spiel. Es geht um das Leben unserer Mitbürger. Es geht um das Leben von Menschen, die benachteiligt sind. Um das Leben unserer Verwandten, um das Leben von allen. Sie stehen auf dem Spiel. Und ich denke, dass es schrecklich ist, daraus eine politische Schlacht zu machen, egal ob in diesem Land oder in irgendeinem anderen Land.
Wir sollten vereint bleiben. Wir sind Homo sapiens sapiens. Der vernunftbegabte Menschen. Das sollten wir sein. Nicht nur Parteimenschen, die den einen oder anderen Präsidenten wählen oder die Agenda einer politischen Partei fördern wollen. Wir sind Homo sapiens sapiens.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Uwe Alschner

Veröffentlicht von

Uwe Alschner

Uwe Alschner, Dr. phil. M.A., Traumdoc, Big Five for Life® Coach, ist begeisterter Blogger und Coach. Die Beiträge drehen sich vorwiegend um die Themen Eigenverantwortung, Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung.

3 Gedanken zu „»Wir sind Homo sapiens sapiens«“

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